Deutsch Projekt: Uwe Kolbe – Kern meines Romans

Uwe Kolbe: Kern meines Romans

1Elender  Untertan  Ratloser

Einheitlicher

Memme Argwöhner  Säufer

Schalentier  Energieloser

Sachter  Insider  Nichtsnutz

Durchschnittlicher

Eiferer  Lügenmaul  Einsiedler

Nervenkranker  Dasitzender.

2

Einschmeicheln  Unterkrauchen

Resignation Endpunkt  Narbe

Fabulierkunst  Ordnung  Rutschbahn

Durchschlüpfen Ekel  Rand  Unsinn

Niemandsland  Gesetz  Einssein

Nebel

Garküche  Eldorado  Nußtorte  Übelkeit

Gestank  Essenausgabe  Nicken

Sumpf  Chimären  Hochstapler  Lauheit

Ewigkeit  Irgendwas  Mittelmaß  Egel

Ratten.

3

Entfettung  Urlaut  Rüssel  Eltern

Einfrieren  Hochrufe  Mischmasch

Anlage  Lustgewinn  Schwamm

Blut  Lumpen  Umstände  Träger

Irrlicht  Gewalt  Eingehen

Fluch Angebot  Hosiannah  Nachruf

Ebene

Bäuche  Lungen Ärsche Haut Typhus

Sucht  Ischias  Circus  Holzwurm

Tran Raffgier  Ängste  Genugtuung

Einkaufen

Zunder  Ulk Makel

Braten  Ablecken  Umhäkeln  Chose

Haufen.

4Einsicht  Umweg  Reime  Ergebnis  MaßHochachtung  Ehre  Lob  Demut

Edelmut  Nutzen  Tadel  Unsicherheit

Mut

Dank  Erziehung  Nachsicht

Offenbarung  Pathos  Frieden

Erscheinung  Reinheit  Nichts

Weg  Irrtum Droge Mahnmal  Erklären

Ideal Cäsur  Haltlose

Eines  Ich  Norm  Einfaches  Natur

Opfer  Rasen  Genick  Arche  Suche

Musik  Unwirsch  Schwanz.

5

Entscheiden Umhaun  Chiffrieren

Hoffen

Mäkeln  Ächten  Chemisieren  Hoffen

Teufeln  Intrigieren  Graben

Einstehen

Gebrauchen  Radikalisieren  Erfahren

Irritieren  Singen  Erlegen

Ziehen Erregen Randalieren Fluchen

Entfernen Tauchen Zerfledern

Enden

Durchhalten  Infizieren  Erwarten

Täuschen  Ängstigen  Gleichmachen

Lärmen Irren  Chloroformieren

Hoffen  Erleben

Revolutionieren  Erfinden  Verführen

Ordnen  Lachen  Umerziehen

Trampeln  Isolieren  Offenhalten

Nacktbaden.

Uwe Kolbe: Kern meines Romans.
Zuerst erschienen in der Anthologie „Bestandsaufnahme 2. Debütanten 1976-1980“, herausgegeben von Brigitte Böttcher, Mitteldeutscher Verlag Halle-Leipzig 1981;
Copyright by Uwe Kolbe

Was soll man mit einem Gedicht anfangen, das – auf den ersten Blick – aus nichts anderem besteht als aus einer planlos-beliebigen Aneinanderreihung von Wörtern?

Was soll man damit anfangen, wenn man weiß, dass der Autor zu den bedeutendsten Lyrikern der deutschen Gegenwartsliteratur zählt?

Muss man nun zwanghaft irgendetwas „hineininterpretieren“?

Gib es einen Geheim-Code, ein Kryptogramm?

Unter einem Kryptogramm versteht man einen Text, in dem eine nach einem bestimmten System versteckte Buchstabenfolge eine über den Text hinausgehende Information vermittelt; man kann auch von einem Geheimtext sprechen. 

Reihen Sie sämtliche Anfangsbuchstaben der Wörter aneinander, dann entsteht:

EURE MASSE SIND ELEND.

EUREN FORDERUNGEN GENÜGEN SCHLEIMER.

EURE EHMALS BLUTIGE FAHNE BLÄHT SICH TRÄGE ZUM BAUCH. 

EUREM HELDENTUM DEN OPFERN WIDME ICH EINEN ORGASMUS.

EUCH MÄCHTIGE GREISE ZERFETZE DIE TÄGLICHE REVOLUTION.

Und jetzt ist auch klar, warum Kolbe mit der Veröffentlichung dieses Gedichts in der DDR einen Eklat verursachte.

Doch was ist der „Kern des Romans“?

Schüler der 13. Klasse wagten den Versuch, Kolbes Lyrik kreativ in Epik zu verwandeln. Es gab keine stilistischen Vorgaben.

Das Ergebnis kann sich sehen lassen!


Teil I: Tagebuchauszüge des Gottfried Anders

von Nicole Gabelsberger.

Freitag, den 18. September 1981

Elender kann ein Tag kaum beginnen, das Wetter gleicht der Stimmung meiner Frau, nass und kalt. Mache mich auf den Weg ins Büro, trotte über das graue, feuchte, mit Tau überzogene Kopfsteinpflaster der Heinrichgasse. Tief in meinem Inneren hege ich seit längerem das Gefühl, dass ich nichts anderes als ein gefügiger Untertan geworden bin, sei es zu Hause oder in der Arbeit. Meine Ehe bröckelt, schwere Zeiten fordern harte Bandagen, dennoch habe ich den Eindruck, als verstehe ich meine Marga jeden Tag ein Stück weniger, werde immer ratloser. Derweil habe ich mich in letzter Zeit immer so bemüht, meiner Marga überall unter die Arme zu greifen, wo es möglich ist, habe ihr das Wäsche-Waschen abgenommen, das Küchenschränkchen repariert, sogar den Abwasch habe ich übernommen, um so für bessere Stimmung sorgen. Aber es hat alles nichts geholfen, egal was ich auch mache, das Gefühl, ich könne ihr rein gar nichts mehr Recht machen, wird von Tag zu Tag größer. Eine Kleinigkeit reicht aus, um sie völlig aus der Fassung zu bringen, gestern hat sie mich wegen einem schmutzigen Teller niedergemacht als sei ich ein Gauner, ich werde immer einheitlicher, sie erkenne keinerlei Unterschied mehr zwischen mir und anderen Männern, grässlich, scheußlich sei es, meine Visage jeden Tag aufs Neue ertragen zu müssen, ein Fehler sei es gewesen, eine Memme wie mich damals überhaupt zum Mann genommen zu haben.  Heute ist Freitag, aber auf die Wochenenden freue ich mich schon längst nicht mehr, die Zeiten von Glückseligkeit und trauten Wochenendausflügen zu zweit sind längst vorbei, Marga wird immer mehr zum Argwöhner, und ich, wer mag es mir verdenken, zum Säufer. Zu gut erinnere ich mich noch an die prächtigen Zeiten, Zeiten des Wohlstands, Zeiten des Glücks, Zeiten der Zweisamkeit mit meiner Marga, Zeiten einer glücklichen Familie, Zeiten der tobenden und lachenden Kinder. Nicht zu vergleichen mit der heutigen Zeit, eine fünfköpfige Familie lässt sich nur schwer mit dem Gehalt eines einfachen Lohnbuchhalters ernähren. Der auf meinen Schultern lastende Druck nimmt stetig zu, fühle mich wie ein Schalentier, dessen Schale schon vor geraumer Zeit zu Bruch ging. Während ich so über das Kopfsteinpflaster ins Büro marschiere, merke ich, dass ich am Ende dieser anstrengenden Arbeitswoche immer energieloser werde, das Pflaster ist rutschig, meine Schritte werden sachter, kann es mir nicht leisten, mich zu verletzen, ein Arbeitsausfall wäre eine Tragödie. Meine Gedanken schweifen erneut ab, die Ungereimtheiten innerhalb meiner Familie zerfressen mich innerlich, einen Plan, wie ich wieder zum Insider meiner eigenen Familie werde, habe ich jedoch noch nicht entworfen. Dabei bringe ich Nichtsnutz es nicht mal auf die Reihe, meine eigenen Kinder, mein Fleisch und Blut, mein Ein und Alles, am Abend ins Bett zu bringen, die Arbeit lässt mich keinen Tag vor 20:00 Uhr nach Hause kommen, zu spät für Gute-Nacht-Geschichten. Noch Unter-Durchschnittlicher dürfte mein Leben nicht werden, weiß nicht, ob ich dem Ganzen dann noch gewachsen wäre. Im Grunde genommen bin ich nichts anderes als ein Eiferer, der das Leben der oberen 10000 begehrt und bewundert, frage mich oft, warum es das Schicksal mit mir nicht so gut meint wie mit manch anderem? Mein Weg zum Bürokomplex 12A nähert sich dem Ende, noch 500 Meter, von weitem, durch die großen Glasfenster, kann ich schon den Büroleiter erblicken, dieses Lügenmaul, wir alle schieben großen Hass auf ihn, tägliche Diskriminierung und Gleichgültigkeit seinerseits schüren unseren Hass mehr und mehr. Ich und die anderen könnten gut und gerne auf den Meier verzichten, am liebsten würde ich ihm ein Flugticket spendieren, ohne Rückflug, auf eine einsame Insel, ein Leben als Einsiedler wär´ für den genau das Richtige, dort kann er wenigstens keinem mehr auf den Sack gehen. Seit 25 Jahren muss ich den schon ertragen, wenn ich könnte, würde ich gehen, mir eine andere Arbeit suchen, alles hinscheißen, ihm den Mittelfinger zeigen, mich am Arsch lecken lassen, ihm die Meinung mal so richtig geigen, doch als kleiner Lohnbuchhalter ist das nicht so leicht, all das ist nur ein Traum. Alles, was ich bin, ist ein Nervenkranker, ein alternder Mann, dessen Leben bald keinen Sinn mehr hat, wenn meine Marga mich sitzen lässt und mir meine Kinder wegnimmt, dann bin ich ein Dasitzender, ohne Lebensinhalt, aber wen kümmert´s schon, was aus mir werden mag. Ich gehe die letzten Schritte zum Bürokomplex, erreiche die Eingangstür. Nehme den Fahrstuhl in den dritten Stock. Mir begegnen wie jeden Morgen die gleichen Kollegen. Verlasse den Aufzug. Gehe den Gang entlang. An dem Meier vorbei, lächle ihm zu. Endlich bin ich im Großraumbüro angelegt. Ein weiterer trister Arbeitstag voller Ernüchterungen beginnt, für mich, und weitere 17 Lohnbuchhalter.


Teil II: Freiheitspfad

von Tamira Cernko.

Mittwoch, 12. November

Den Morgen begann ich mit meinem alltäglichen Ritual, dem Einschmeicheln. Ich umgarnte meine Pflegerin, machte ihr Komplimente und versuchte, ihr Vertrauen zu finden. Ansonsten hielt ich mich wie immer bedeckt und suchte einen Platz zum Unterkrauchen. Die beste Methode,  es hier auszuhalten, war einerseits nicht aufzufallen und somit positiv auf die Pfleger zu wirken, andererseits sollte man nicht in Resignation verfallen, um nicht zum Endpunkt der Krankheit zu gelangen. Hielt man diese Regeln ein, so hatte man die Chance, außer einer Narbe im Herzen, geheilt wieder aus der Anstalt entlassen zu werden.

Nachdem alle zum Frühstück eingetroffen waren, hielt es Dr. Adler wieder für nötig, seine Fabulierkunst zum Besten zu geben. Einen Vorteil hatten diese allmorgendlichen Reden von Dr. Adler jedoch, es kam Ordnung in das Ganze Tohuwabohu, da jeder wusste, wenn der Doktor spricht, hatte man still zu sein. Ich hatte in dieser Zeit die Gelegenheit, meinen Plan genauestens ein letztes Mal zu überdenken. So war ich absichtlich einer der Letzten, der sein Frühstücksgeschirr aufräumte und ins Zimmer ging, um seine schmutzige Wäsche zu holen. Ich hatte mir extra einen Mittwoch ausgesucht, da man an diesem Tag immer seine Wäsche die Rutschbahn runter werfen konnte. So gelang diese in den Keller und wurde am Donnerstag gewaschen.

Ich ließ die anderen vor und  warf als Letzter  in aller Seelenruhe meine Dreckwäsche hinunter. Als die Pflegerin kurzzeitig abgelenkt war, bot sich mir die Möglichkeit und ich konnte mitsamt der Wäsche durchschlüpfen. Zwar erfüllte mich das Gefühl von Ekel, zusammen mit den ungewaschenen Unterhosen in den Keller zu rutschen, aber gleichzeitig erfasste mich ein Schwall Glücksgefühle, der Freiheit entgegen zu kommen. Unten angekommen schlich ich mich am Rand der Wand und geduckt hinter den Wäschebergen zur Außentüre. Natürlich wäre es Unsinn gewesen, unvorbereitet in den Keller zu gelangen und dann dort vor verriegelter Türe zu stehen. So hatte ich bereits eine Büroklammer und verschiedene andere “Werkzeuge” organisiert, um die alarmgesicherte Tür mit spezieller Verriegelung öffnen zu können.

So war die Büroklammer meine Tür ins Niemandsland. Dass mein Weg in die Freiheit gegen das Gesetz verstieß, dessen war ich mir sehr wohl bewusst, und so  verbrachte ich gefühlt eine halbe Ewigkeit damit, erst die Alarmanlage auszuschalten und dann mit zittrigen Händen das Schloss zu knacken. Das misslang mir zunächst. “Ruhig bleiben. Fixiere dich auf dein Ziel” – eines meiner Lieblingsmantras, mit dem ich mich selbst vor falschen, sich einschleichenden Gedanken schützen konnte. Und wieder einmal zeigte es seine unglaubliche Wirkung. Meine Hände wurden ruhiger, mir fiel wieder ein, was ich in meiner Ausbildung zum Schlosser gelernt hatte, und innerhalb von fünf Minuten war die vermeintlich nicht zu öffnende Tür geknackt.

Nun begann der eigentlich schwierigere Teil meines Plans, ich musste einssein mit dem frühmorgendlichen Nebel. Ich kroch auf dem taunassen Gras am Boden entlang, da die Anstalt meist von Bodennebel umhüllt war. Trotz meiner durchnässten Kleider drückte ich mich noch tiefer ins Gras, als ich an der Garküche vorbeikam. Ich schätze, das wird das einzige sein, was ich vermissen werde. Ihre Speisen waren ein Eldorado an Köstlichkeiten. Am liebsten mochte ich die Nußtorte. Heute jedoch überkam mich die Übelkeit, da ein unerklärlicher Gestank aus dem Raum der Essenausgabe zu mir herüber wehte. Ich vermute, dass der Geruch zwar der gleiche wie immer war, aber mich nunmehr an meine Freiheitsberaubung erinnerte, meine Zeit in der Anstalt. So beeilte ich mich, mit einem letzten, verabschiedenden Nicken in Richtung Küche die letzten Meter zum Rand des Grundstücks zu robben.

Mein Ziel war der Sumpf am hinteren Ende des Gartens. Ich vermutete, dass dieses Areal der gesamten Anlage am wenigsten bewacht war, da den Insassen erzählt wird, dort würden Chimären hausen. Ich hielt das – trotz meiner manchmal beängstigenden Gedanken – für eine Geschichte vom Hochstapler Dr. Adler. Aber die altbekannte Lauheit überkam mich trotzdem.

Mir blieb nichts anderes übrig, als eine Ewigkeit abzuwarten, bis die falschen Gedanken verschwunden waren und ich schließlich zum Sumpf kriechen konnte. Dort angelangt, musste mir irgendwas einfallen, um den meterhohen Zaun zu erklimmen. Die Schwierigkeit lag darin, das Mittelmaß zwischen Alarmanlage und Kamera zu finden, da ich weder von oben gefilmt werden noch von der hüfthohen Alarmanlage registriert werden durfte.

Ein weiterer Störfaktor war die Zeit, da der Nebel begann, sich unaufhörlich aufzulösen. Zuerst versuchte ich, mich durch die Stäbe zu quetschen, was nicht klappte, da ich geduckt bleiben musste.

Meinen zweiten Versuch, ein Loch unterhalb des Zaunes zu graben, gab ich relativ schnell auf, da ich dafür Tage gebraucht hätte. So blieb mir nichts anderes übrig, als zu versuchen, den Zaun hinaufzuklettern. Davor suchte ich wieder im Kriech-Modus nach Steinen, um die Glasscheibe der Kamera zu zerstören, was mir nach drei Würfen erstaunlicherweise gelang. So fing ich an, hinaufzuklettern und mir fehlten nur noch einige Zentimeter, als ich die Egel – offiziell genannt Pfleger –  laufen hörte.

Sie rissen mich vom Zaun und warfen mich auf den Boden.

“Ihr Ratten“, schrie ich, “Ihr nehmt euch, was Ihr wollt! Das ist meine Freiheit!”

Mein Plan war so perfekt, der einzige Fehler lag darin, dass meine falschen Gedanken dafür gesorgt haben, dass ich die Alarmanlage beim Hinaufklettern der Stäbe missachtet habe. Ein dummer Fehler, ich werde ihn nie wiederholen. Aber ich werde auch nie wieder die Chance haben, ins Niemandsland zu kommen, da nun zusätzlich auf meiner Krankenakte “suizidgefährdet” steht.

Warum sollte ich fliehen, um mich dann selbst umzubringen? Das wusste nur Dr. Adler, er hatte die Macht und er hatte das Studium der Psychologie, nicht ich.


Teil III: Aus dem Tagebuch von Joseph „Jupp“ Engels

von Michael Bong.

17.02.2015

Liebes Tagebuch,

entschuldige meine lange Schreibabstinenz, aber die letzten Karnevalstage musste ich einfach aus dieser bäuerlichen Provinz entfliehen und mich einer arbeitstechnischen Entfettung unterziehen. Ich habe also die Gunst der Stunde genutzt und Karneval in meiner geliebten Heimat Kölle am Rhing verbracht. Natürlich mit der Absicht, meinem in den letzten Wochen auf dem Sterbebett liegenden Sexualleben neuen Esprit einzuhauchen.

Ich ergatterte einen der letzten guten Plätze, um den „Zoch“ zu sehen. Gerade als ich mich nach geeigneter Beute umsehen wollte, ließ mich ein gewaltiger Urlaut zusammenzucken. In einiger Entfernung erkannte ich einige Rüssel, augenscheinlich Teil einer Verkleidung mehrerer Personen. Vielleicht Eltern mit ihren Kindern. Uninteressant, sollten dort Frauen sein, so sind sie wahrscheinlich schon mit ausreichend männlichen Begleitern eingedeckt. Um nicht noch mehr einfrieren zu müssen, beschloss ich, dass bei derartigen Außentemperaturen die einzig konstante Wärme nur von innen ausgehen konnte. Ich begab mich also zum Kiosk, dem Hochrufe des Alkohols folgend. Angekommen verstand mich der dicke Verkäufer im Mischmasch aus Bestellungen und dröhnender Musik seiner eigenen Anlage im hinteren Teil des Kiosks kaum. Als ich endlich mein abgestandenes Kölsch in den Händen hielt, erspähte ich den ersehnten Lustgewinn des heutigen Tages am anderen Ende der Straße: einen Schwamm in den Händen, welcher wahrscheinlich ein Gehirn darstellen sollte, Blut im Gesicht und nur in Lumpen gekleidet – Kostüm sexy Zombie. Ich eilte zu ihr und stellte mich, ganz den äußeren Umständen entsprechend als Mönch verkleidet, als Träger des heiligen Kreuzes vor. Ich versuchte mich an einem passenden Anmachspruch: Ich wollte sie armes Irrlicht befreien. Notfalls mit Gewalt. Dies sei normal nicht meine Art, aber man müsse entsprechend auf sie eingehen, damit sie vom Fluch des Untoten endlich erlöst würde. Ich schien ihr zu gefallen, sie wollte auf mein Angebot eingehen, allerdings erst in Form eines Dinners heute Abend. Ich willigte ein, steckte ihr meine Zunge in den Hals und meine Adresse in ihr Höschen. Hosiannah! Die Mission schien früher als erwartet erfüllt, der Nachruf für mein auf dem Sterbebett liegendes Sexualleben verblasste vor meinem geistigen Auge. Ich sah uns schon in der horizontalen Ebene liegend, die nackten Bäuche aneinander gepresst, die Lungen schwer atmend, Ärsche und Haut schweiß gebadet, als würde uns der Typhus plagen. Solange kopulierend, bis meine Sucht nach Befriedigung gestillt ist. Oder sich mein Ischias wieder meldet. Die waghalsigsten Circus-Nummern nachstellend, meinen kleinen Holzwurm immer wieder in sie bohrend. Den Tran der letzten Tage abgelegt, die Raffgier des Geschäfts vergessend. Alle Ängste über Bord geworfen, endlich ein kleines Fünkchen Genugtuung.

Doch um ihr ein Abendessen bieten zu können, musste ich noch Einkaufen gehen. Ich besorgte ordentlich Zunder in Form von Alkohol, damit jegliche Bedenken weggesoffen werden konnten, und als Ulk einen Braten, der an der Fleischtheke als „Aasbraten für Zombies“ deklariert war.

Sie traf ein und mich der Schlag. Der sexy Zombie war ungeschminkt eine biedere Schreckschraube. Und ein weiterer Makel folgte: Sie wollte den Braten nicht mal ablecken! Veganerin. Und nun wollte sie mich dazu auch noch bekehren. Sollte ich, das vermenschlichte Testosteron, der Inbegriff der Männlichkeit, der einzige Lichtblick in einem Haufen durch die Emanzipation verweichlichter Waschlappen, klein beigeben? Mich zu einem Salatfresser umhäkeln lassen? Haben wir Männer, als Jäger geboren, mit Mammuts den Kampf ums Überleben austragend, die Evolution bis hierhin überstanden, nur um dann wehrlosen Karnickeln das Futter wegzufressen? Nein, sicher nicht! Aber die Chose mit diesem Alice-Schwarzer-Verschnitt wollte ich mir auch nicht geben. Ich packte ihre Hand, geleitete sie nach draußen zu meinem Haufen aus Bioabfällen und bot ihr diesen als Alternativgericht an. Sie ist zwar wutentbrannt abgedampft und ich durfte wiedermal selbst den Aal langziehen, aber das war es mir wert!


Teil IV: Anna in Kölle, Alaaf!

von Franziska Summerer.

Kolumne von Anna Wunder

Die letzten Tage bin ich zu einer wertvollen Einsicht gekommen: Dass der Karneval in Köln nicht gerade der Pfad zum Glück sein würde, hatte ich mir vorher schon gedacht, aber dass er so ein Umweg sein würde, hätte ich nicht für möglich gehalten. Es war quasi ein Gedicht ohne Verse und Reime. Was in Bayern der Fasching ist, ist in der Stadt am Rhein der Karneval. Nur zehn Mal schlimmer. Das Ergebnis der maskierten Parade am Rosenmontag waren Alkoholleichen, zu Dutzenden gestapelt an Straßenrändern und in Kneipen. Jede davon mit der einen oder anderen Maß Bier zu viel intus, bzw. „Kölsch“, wie die Kölner ihre lächerlich kleinen Bierchen stolz nennen. Meine Hochachtung gebührt jedem, der diese rhein‘schen Kulturveranstaltungen ohne Verlust von Würde und Ehre hinter sich bringt. Ich für meinen Teil habe es nicht geschafft.

Auf der Suche nach Alkohol, den ich dringend brauchte, um meinen ansonsten doch gesunden Menschenverstand vollständig zu eliminieren, damit ich dieses Fest der Peinlichkeiten nach allen Regeln der Kunst überstehen konnte, begab ich mich zum Nachtanken in eine Kneipe.

Dort lernte ich Jupp, den netten Mönch, kennen. Weder sein Kostüm noch seine plumpe Anmache verdienten ein Lob und ich versinke in Scham und Demut, dass ich mich für ein abendliches Treffen mit ihm verabredet hatte.

Seinen Edelmut in Ehren, dass er für mich „gekocht“ hatte, aber der Nutzen dieses Versuchs hielt sich für mich in Grenzen. Der Anblick seines Bratens machte mich augenblicklich  zur Veganerin. Neben all dem Tadel an seinen Kochkünsten machte sich allmählich Unsicherheit breit. Warum hatte ich nur auf meine ebenso betrunkenen Kumpane gehört und bin der Einladung hierher gefolgt? An dieser Stelle möchte ich euch noch einmal in aller Öffentlichkeit verteufeln …

Von all dem Mut, mit dem ich zu diesem Date gekommen war, blieb nicht mehr viel.

Herzlichen Dank an meine Mutter, die bei meiner Erziehung zwar gewiss das eine oder andere verkehrt gemacht hatte, aber wenigstens hat sie mir beigebracht, wann es Zeit ist, zu gehen.

Als ich da so neben dem einsamen jungen Kerl stand, überkam mich irgendwie die Nachsicht. Der Mönch Jupp und ich schienen einfach nicht füreinander geschaffen zu sein. Halleluja, diese Offenbarung erreichte mich gerade noch rechtzeitig. Denn mit dem Pathos seiner betrunkenen Rede hatte ich fast schon meinen Frieden gemacht. Mit den halbwegs überzeugenden Argumenten und dem Charme, den Jupp, der Mönch, heute Mittag dafür verwendet hatte, um mein Herz zu gewinnen, war Schluss. Seine Absichten waren offensichtlich gewesen und doch bin ich darauf eingegangen. Ob es sein Charakter oder seine äußere Erscheinung war, wusste ich zu diesem Zeitpunkt nicht mehr genau, die Wirkung des Alkohols hatte deutlich nachgelassen – leider.

Ich stand an der Wohnungstür und warf einen Blick zurück. Ein Paradies der Reinheit war das auch nicht gewesen.

Was ich mir nur gedacht habe, hierher zu kommen? Nichts anscheinend.

Auf dem Weg zurück stolperte ich über all die leeren Dosen und Flaschen und begann, darüber nachzudenken, wie kluge Frauen an diesem Tag in einer schönen Stadt zu Objekten wurden. Wer glaubt, es käme nur vom Alkohol, der unterliegt vielleicht einem Irrtum, vielleicht aber auch nicht. Hat die Droge allein die Macht, aus intelligenten Frauen und ebenso aus Männern Menschen zu machen, die komplett auf eigenständiges Denken verzichten? Meine Erinnerung an diesen Tag soll mir ein Mahnmal für meinen Alkoholkonsum sein. Erklären kann ich mir mein Verhalten, und das von zig anderen an diesem Tag, sowieso nicht anders.

Jupp, mittags noch das Ideal der Frauen aus der Männerwelt, war es abends keineswegs mehr. Nüchtern betrachtet kam es mir vor wie eine Cäsur: Ein Schnitt mitten durch das ausgelassene Feiern, ich war eine Haltlose im Rausch des Karnevals.

Doch als sich Jupp als der hedonistische Kerl herausstellte, wusste ich es besser. Eines war klar: Ich würde das nicht noch einmal machen! Und ich finde das Leben mit Struktur und Norm schön. Einfaches gefällt mir. Manchmal reicht die Natur. Das Opfer, das ich durch meine Verabredung mit Jupp brachte, um das auf die harte Tour zu bemerken, hätte nicht sein müssen. Ich hoffe, zu dieser Einsicht kamen auch manche Kölnerinnen. Sobald sie den zertrampelten Rasen unter dem Schnee wieder sehen, wird ihnen hoffentlich klar, dass ihnen das Versaufen jeglicher Würde früher oder später das Genick brechen würde.

Sie werden wie ich zu der Überzeugung gelangen, man sollte alle Jupps dieser Stadt auf Noahs Arche verbannen, wo sie sich mit ihren tierischen Gleichgesinnten auf die Suche nach einem Land ohne Frauen mit Verstand machen könnten. Das klingt wie Musik in meinen Ohren. Unwirsch, aber schön.

Ein gutes allerdings hat der Karneval jedes Jahr: Ursprünglich sollte der Brauch den Winter austreiben. Es kommt also bald der Frühling und dann erwacht Norbert, das Eichhörnchen, das im Nussstrauch vor der Redaktion lebt. Es hat einen buschigen Schwanz.


Teil V: Cem und Yasin Teil 1

von Melanie Nitsch.

12. August 2014

Seit heute bin ich nun offiziell als Asylbewerberin registriert in einem Land, in dem ich mich fremd fühle, in dem ich nicht gerade mit offenen Händen empfangen wurde, und stelle mir die Frage, ob hier nun die Endstation ist. Die Endstation einer langen Reise… ein Ort, wo ich später meine Kinder großziehe und wohl irgendwann sterben werde. Mein Eldorado habe ich mir immer anders vorgestellt. Wäre Cem nicht an meiner Seite, würde ich wohl nicht hier bleiben. Ständig diese Frage: Wie seid ihr hierher gekommen? Was habt ihr erlebt? Warum musstet ihr flüchten? Die Fragen durchlöchern mich und lassen es nicht zu, alles zu vergessen. Warum entscheiden sich wohl Menschen dazu, Menschen wie Cem und ich, die eigene Heimat zu verlassen? Keiner unserer Betreuer hat den geringsten Schimmer wie es in unserem Dorf war. Wir mussten weg. Seit sechs Monaten habe ich nun keinen Kontakt mehr zu meiner Familie gehabt, Cem noch länger. Und dann kommt erneut die Frage, wie geht es dir? Ich könnte sie umhaun, solche Wut durchströmt meinen Körper in diesem Moment. Cem schafft es oft, mich zu beruhigen. Er sagt dann immer in seinem IT-Blabla: „Versuch deine Gefühle zu chiffrieren, keiner will aggressive Flüchtlinge. Die schicken uns zurück, reiß dich zusammen!“ Chiffrieren, welcher normale Mensch benutzt dieses Wort im Zusammenhang mit der Unterdrückung der eigenen Gefühle? Ich muss dann schon fast schmunzeln, weil es eben so absurd ist. Cem schafft es meist mich zu beruhigen, obwohl er nicht gerade sensibel ist, ich würde schon fast sagen, nach innen gekehrt. Er behält seine Gefühle eher für sich, aber ich weiß, er kocht innerlich genauso. Das gemeinsame Hoffen, unsere Situation würde sich bald zum Besseren wenden, schweißt uns zusammen, wenngleich uns mein Mäkeln wieder voneinander entfernt. Ich weiß, dass die ständigen Beschwerden über unsere Situation unserer Beziehung nicht gut tun, aber ich muss darüber reden. Mit wem denn sonst, er muss das doch verstehen. Er fühlt doch auch die Blicke der Bewohner hier, sie ächten uns, und ich würde schon fast sagen, sie wollen uns vertreiben. Unsere Betreuer meinen wohl, wir kapieren nicht, was da an unsere Hauswände geschmiert wird, Woche für Woche. Die Farbrückstände bilden Umrisse der Parolen, die man auch im Fernsehen sieht. Fange ich an, darüber nachzudenken, fängt es in mir an zu brodeln. Ich weiß nicht wohin mit meinen Gefühlen, meinem Unverständnis, meiner Wut. Sie chemisieren sich zu einem Molotowcocktail. Dann muss ich erst mal raus aus unserem Rattenloch. Ich lauf dann solange, bis ich nicht mehr atmen kann, bis mich mein Seitenstechen fast umbringt und ich wieder zur Besinnung komme. Ich harre dann noch ein wenig aus und warte, bis ein paar Stunden verstrichen sind, um mich schließlich auf den Weg nach Hause zu machen. Cem hatte wieder alles abbekommen und ist darüber sicherlich nicht glücklich. Ihn zu benutzen als Ablassventil für meine Wut, trägt sicherlich nicht dazu bei, dass unsere Liebe zueinander wächst. Ich weiß selbst nicht, warum ich das mache, er ist doch der, der mir Halt gibt. Uns verbindet so viel. Wir hoffen nicht nur gemeinsam auf ein Leben in Frieden, sondern haben dieselben Interessen und fühlen uns vollständig, wenn wir zusammen sind. Spätestens vor unserer Haustüre steigen mir Tränen in die Augen und ich bereue mein Teufeln. All die verletzenden Worte, die ich ihm zuvor an den Kopf geschmissen hatte, würde ich am liebsten zurücknehmen. Mich würde es nicht wundern, wenn mir kleine Hörnchen aus der Stirn wachsen. Ich möchte ja nicht so sein, ich weiß nicht, wie es so weit kommt. Es ist, als ob eine höhere Macht uns als Marionetten benutzt, als ob andere uns – unsere Liebe zueinander – und unsere Gefühle intrigieren. Als würde jemand das zerstören, was wir haben. Früher waren wir auch nicht immer einer Meinung, aber so gestritten haben wir uns nie. So schlimm war es nie, wir hatten uns verändert. Manchmal scheint der Graben zwischen uns größer, als dass ich ihn jemals wieder überwinden könnte. Und wiedermal stand ich mit Tränen in den Augen vor der Haustüre und musste für meinen Ausflipper einstehen. Meine Entschuldigung prasselte nur so aus mir heraus, meine Worte überschlugen sich und ich heulte die nächsten 15 oder 30 Minuten, in denen er wahrscheinlich kein Wort verstand, da jedes zweite Wort von meinem Schluchzen übertönt wurde. Ich steigerte mich regelrecht in die aussichtslose Situation hinein. Er ist doch der Einzige für mich, was sollte ich nur ohne ihn tun. Und seine Arme umschlossen mich und mein Herzschlag fing an, langsamer zu schlagen, und letztendlich verstummte mein Schluchzen. Vor unseren Nachbarn können wir den Streit nicht verbergen. Sie hören alles, die dünnen Wände geben das Gefühl, als sitze man direkt in der Küche der Nachbarn. Eine der Nachbarfrauen, ich glaub ihr Name ist Samira, sieht am nächsten Morgen immer so vorwurfsvoll herüber, wenn wir uns auf dem gemeinsamen Gang treffen. Mein Gesicht wird dabei unangenehm heiß und ich würde sagen, ich versinke in totalem Schamgefühl. Dabei war ihre Familie alles andere als perfekt. Unsere Wohnung verwandeln wir, wenn nötig, zur Theaterbühne. Wir können die dünnen Wände für unsere Zwecke gebrauchen, indem wir Reizthemen ansprechen. Cem hatte die Idee, er war überzeugt, die Nachbarn bekämen mehr als wir. Wir fangen an, darüber zu sprechen, und können sofort hören, wie es in der Nachbarwohnung losgeht und dasselbe heiße Thema diskutiert wird. Nicht immer rücken sie mit Informationen heraus. Ein Teil der Bewohner trifft sich hin und wieder in der Wohnung nebenan, ich würde schon fast sagen sie radikalisieren sich zu Gruppen, aber ich schätze, im Grunde ist ihnen nur langweilig und sie würden nie etwas Gewalttätiges tun. Dieses Machogehabe ist kaum anzuhören, aber dank der guten Isolierung der Wände erfahren wir alles, jede Einzelheit. Auch das lässt mich manchmal durchdrehen, ich habe keine Sekunde für mich, auch ein Rückzugsort ist nahezu unmöglich. Und all die Probleme unserer Nachbarn beeinflussen uns, selten sind glückliche Szenen zu hören. Meist versuche ich die Stimmen aus der Nachbarwohnung zu ignorieren, doch manchmal kommt es vor, dass ich einzelne Wörter aufschnappe und mein Interesse geweckt wird. Oder vielleicht kein Interesse, aber das Aufschnappen von mehreren Schlagwörtern und das Aufkommen von Diskussionen irritieren mich. Besonders, wenn es um Wege raus aus dieser Absteige geht, werde ich hellhörig und komme nicht herum mich zu fragen, ob die etwa noch vor uns eine Möglichkeit gefunden haben. Wir hatten doch schon alles versucht. Einzig, wenn die Tochter in der Wohnung der Machotreffen zu singen beginnt, kann ich so richtig abschalten. Sie zaubert mir ein Lächeln ins Gesicht, wie es mein Vater immer hatte, wenn er von der Jagd kam. Komisch ist das schon, wieso assoziiere ich das Erlegen eine Tieres durch meinen Vater mit dem Singen des Nachbarmädels zu einem Glücksgefühl. Ich schätze, er fehlt mir einfach sehr. Wird es spät und die Sonne geht unter, hört man die jungen Männer noch um die Wohneinheiten ziehen. Sie erregen nicht nur unsere Aufmerksamkeit, sondern auch die der Mütter, die mit dem Schimpfen kaum hinterherkommen. Die Streuner wissen nicht wohin mit ihrer Langweile und randalieren schon mal von Zeit zu Zeit. Unbeachtet bleibt dies meist nicht, sobald ihre Mütter zu fluchen beginnen, hat eine der Mütter die Schandtaten mitbekommen und es den anderen brühwarm weitergetratscht. Doch heute ist alles anders, ich schenke diesen alltäglichen Szenarien keine Aufmerksamkeit. Ich denke nur an Cem – an Cem und mich – und unseren schlimmen Streit. Nach so einem heftigen Streit entfernen sich die Gefühle vielleicht eine Zeit lang von-einander, doch heute war es anders. Bis spät nachts war es, als würden wir in unsere schönsten Träume tauchen. Wir philosophierten über unser Leben, wie unsere Zukunft aussehen würde, wo wir leben würden, wie erfolgreich wir letztendlich werden würden. Solange wir in unseren Träumen schwelgen, ist es als ob unsere schlimmen Erfahrungen und die unzähligen Streitereien in weite Ferne rückten. Als könnten wir in der Ferne unser Trauma wie ein altes Stück Papier zerfledern sehen. Ich bin mir sicher, dass das Drama enden wird und wir unser Eldorado finden – und das gemeinsam.


…Teil V: Cem und Yasin Teil 2

von Dominik Kastl.

14. August 2014

Wie sollen wir das alles nur durchhalten? Manchmal habe ich das Gefühl, dass Yasins Traurigkeit und  Verärgerung über unsere jetzige Situation auch mich infizieren. Natürlich kann ich mir vorstellen, wie es im Moment in ihrem Inneren aussehen muss. Es muss so schlimm sein, dass sie vollkommen vergisst, dass auch ich die schwerste Zeit meines Lebens durchmache. So weit weg von unserer Heimat, unseren Verwandten und Freunden. Eigentlich sollte ich schon erwarten können, dass sie trotzdem auch auf mich Rücksicht nimmt und mir zur Seite steht. Da ich aber weiß, dass Yasin hier in diesem fremden Land ohne mich hoffnungslos auf sich allein gestellt wäre, versuche ich, jeden Streit sofort zu unterbinden, indem ich ihr gut zurede und versuche, ihr Halt zu geben. Ich hätte nicht gedacht, dass wir uns so täuschen würden, in diesem Land kein besseres Leben als zuhause erlangen zu können. Vielleicht rühren diese Gefühle, die sich momentan bei uns breit machen und uns täglich ängstigen, auch daher, dass wir bis jetzt noch keinerlei Aussicht auf Arbeit oder Anschluss an die Gesellschaft haben. Flüchtlinge wie wir müssen hier anscheinend einen sehr langen Prozess durchlaufen, bis für sie überhaupt feststeht, wie es mit ihnen weitergeht bzw. wohin die Reise geht. Eine Sache, die uns mit Sicherheit so einiges erleichtern würde, wäre die Möglichkeit, die Unterschiede zwischen unserer Muttersprache und der Sprache dieses Landes gleichmachen zu können. Uns war von Anfang an klar, dass wir im Falle eines Verbleibes in Deutschland die Sprache erlernen müssten. Da wir auch kein Englisch sprechen, sind wir derzeit komplett auf uns alleine gestellt und können nur flüchtig verstehen, wie unsere Nachbarn ihre Streitigkeiten durch großes Lärmen aus ihren Häusern in die Welt hinausschreien. Da sie ab und zu versuchen, mit uns Kontakt aufzunehmen, konnten wir uns mittlerweile schon einige Wörter aneignen. Zuerst dachte ich, dass es wohl vorerst nicht zu weiteren Treffen kommt, da die Nachbarn als auch wir nicht so recht wissen, wie wir eine Art „normales“ Gespräch aufbauen können. Ich sollte mich jedoch irren: Schon bald kamen die Nachbarn, die direkt neben uns wohnen, wieder auf uns zu und luden uns ein, den Abend mit ihnen zu verbringen. Natürlich war es für Yasin und mich eine sehr unangenehme Situation. Wir wussten ja nicht, ob wir nun in der Nachbarschaft akzeptiert werden oder ob man das alles nur aus purem Mitleid mit uns macht. In diesem Moment war mir das aber egal, ich wusste, dass es eine willkommene Abwechslung für Yasin sein würde. Endlich mal raus, etwas anderes sehen, mit anderen Menschen sprechen, oder es zumindest versuchen. Als wir nach diesem gemeinsamen Abend mit den Nachbarn wieder nach Hause kamen, brach Yasin wie aus dem Nichts in Tränen aus. Ich musste sie mit meinen Armen regelrecht chloroformieren, damit sie sich wieder beruhigt. Ich denke, dass sie in diesem Moment kurz vor einem Nervenzusammenbruch stand. Später, nachdem sie sich endlich wieder gefangen hatte, erzählte sie mir, dass ihr der Abend bei den Menschen nebenan gezeigt hat, wie sehr sie unsere eigenen Freunde eigentlich vermisst und sich nach ihnen sehnt. Ich versuchte wieder einmal, gut auf sie einzureden, und dies schien auch zu funktionieren. So habe ich es geschafft, ihr das Hoffen auf eine Rückkehr in unsere Heimat zu bewahren, obwohl mir in meinem Innersten bereits längst klar war, dass wir das wohl nicht mehr erleben würden.

Seit Wochen haben wir nichts mehr von unseren Angehörigen gehört, sie leben direkt im Kriegsgebiet unseres Landes. Ich bete jeden Tag zu Gott, dass sie alle noch am Leben sind. Ein Ende des Krieges, das zum jetzigen Zeitpunkt noch lange nicht in Sicht ist, würde so einiges in unserem Land revolutionieren. Es könnten zum ersten Mal seit langem wieder demokratische Wahlen abgehalten werden, die ausländischen Soldaten könnten endlich wieder abziehen und wir, Yasin und ich, könnten möglicherweise sogar irgendwann wieder dorthin zurück. Natürlich müssten wir unsere Lebensart schon wieder komplett neu erfinden, da die Unterschiede zwischen zuhause und hier gewaltig sind.

Nun aber Schluss mit meinem ständigen und unrealistischen Wunschdenken. Ich war selbst überrascht, als Yasin auf einmal versuchte, mich noch im Wohnzimmer zu verführen, so kurz nachdem sie nervlich so gut wie am Ende war. Anscheinend war ihr die Nähe, die ich ihr gab, als ich sie in den Armen hielt, nicht genug. Selbstverständlich musste ich mich erst einmal ordnen, um mit der Situation, in der ich mich befand, überhaupt klarzukommen. Halbnackt stand sie auf einmal vor mir und begann zu lachen.

Yasin und ich waren für alles offen in diesem Land, was unsere Weiterbildung und Arbeit anging. Eine Sache machte uns zudem noch schwer zu schaffen: Die vielen Fragen der Behörden und all die Dinge, die wir vorweisen und erledigen mussten, nur um wieder von einem Amt zum nächsten weitergereicht werden zu können, kamen uns vor, als wolle man uns umerziehen zu Bürgern dieses Landes. Diese waren wir aber nicht, zumindest noch nicht. Wir saßen stundenlang in Warteräumen, zusammen mit anderen Flüchtlingen aus aller Herren Länder und hörten das ständige Trampeln der Angestellten, die von Büro zu Büro hetzten, um Dokumente zu überbringen oder sie zu kopieren. Mit der Zeit kam auch dieses Geräusch dem Lärm einer Elefantenherde gleich, da wir nichts anderes mehr hören konnten. Es machte uns verrückt.

Keinesfalls versuchten Yasin und ich, uns von der Außenwelt zu isolieren, jedoch hatten wir, wie vorher schon erwähnt, große Probleme, uns anzupassen und Anschluss zu finden. Nichtsdestotrotz wollten wir uns alle Möglichkeiten offenhalten, unserem gemeinsamen Leben, das ich übrigens niemals missen möchte, eine Chance auf eine Verbesserung zu geben. Sei es durch Arbeit oder einen Sprachkurs, alles würden wir tun, damit wir hier eine Chance auf ein normales Leben samt neuen Freunden und vielleicht auch irgendwann Kindern bekommen würden. Auch wenn ich mich als eine Art Beschützer von Yasin darstelle, wäre es für mich eine Qual, ohne die Frau, die ich liebe, in einem fremden Land zu sein. Ich bin ihr unendlich dankbar für alles, was sie gemeinsam mit mir durchmacht, und hoffe, dass wir gemeinsam alle Steine, die uns in den Weg gelegt werden, aus dem Weg räumen können.

So, und jetzt gehen wir zwei zum Nacktbaden, das haben wir schon seit Jahren nicht mehr gemacht.