Ein Dankeschön

An diejenigen, die auch nachts Zivilcourage und Mut beweisen können

Donnerstagabend, 22:30, Max-Weber-Platz, U-Bahn-Station.

Ich bin alleine unterwegs und habe ein mulmiges Gefühl im Bauch. Mein Hirn fängt schon beim Fahrkartenautomaten an, verrückt zu spielen, einfach nur, weil drei junge Erwachsene dort rumhängen. Sie kommen wohl nicht aus Deutschland. Ich beeile mich und steige schnell die Treppen hinunter. Und hasse mich dafür. Ich möchte nicht, dass diese jungen Männer an meinem Unwohlsein schuld sind. Aber es ist nachts und ich bin als Frau alleine unterwegs. Ich weiß – eine billige Ausrede.

Ich bin in der Wartehalle angekommen; sie ist menschenleer. Nur auf der anderen Seite der Gleise warten ein paar Leute. Und plötzlich höre ich es: Laute Klagelaute, eher Heulgeräusche hallen durch die Station, ich sehe eine Frau Mitte 30 hinter der Säule hervorkommen. Sie schreit laut irgendwelche unverständlichen Worte. Ich denke erst, sie hat eine Behinderung. Sie wankt heulend näher, ich gehe auf Abstand. Feige. Sie kommt auf mich zu, sie weint und ist wahrlich verzweifelt. „‘Tschuldigung, ich hab nur eine Frage“, lallt sie und ich erkenne, dass sie betrunken ist. Ich schaue sie an, bereit für Kommunikation, obwohl ich Angst habe. Sie möchte wissen, wo sie hin muss, redet wirr von einem Spielplatz, redet unverständlich. Sie fragt, welche Station nach dem Max-Weber-Platz kommt, wenn man in Richtung Theresienwiese fährt. Ich weiß es nicht, könnte aber nachsehen. Stattdessen sage ich ihr, dass sie es dort vorne von der Tafel ablesen kann. Wieder handle ich feige. Ich sehe doch genau, dass sie wohl kaum im Stande ist, ein Schild zu lesen, wenn sie noch nicht einmal geradeaus laufen kann. Sie steht heulend vor der Tafel, zieht sich ihre zu große Kapuzenjacke quer über den Kopf. Sie leidet. Ich hadere mit mir. Soll ich doch hingehen und ihr helfen? Jetzt füllt sich auch langsam der Bahnsteig, mein Herz wird ein wenig leichter.

Und da, da ist er. Ein unscheinbar wirkender Mann in ihrem Alter geht zu ihr, fragt sie, was sie brauche, wohin sie wolle. Währenddessen betrachte ich die Menschen auf der anderen Seite der Gleise, die teils abwertend, teils angeekelt die Szene betrachten. Ein älteres Ehepaar schüttelt mit dem Kopf, kann kaum die Augen davon lassen. Der Zug kommt, der Mann steigt mit der immer noch weinenden Frau ein. Die U-Bahn ist gut gefüllt, die Frau fällt nicht mehr so auf, wie am leeren Bahnsteig. Trotzdem hat sie sich noch nicht beruhigt. Der Mann sagt ihr, sie solle am Hauptbahnhof aussteigen, dort käme sie zu ihrer Haltestelle. Als er aussteigen muss, blickt sie ihm flehend hinterher, ihr Weinen wird wieder lauter. Sie versucht verzweifelt, den U-Bahn-Plan an der Wand zu lesen. Ein älterer, sehr zugeknöpfter und korrekt wirkender Herr dreht sich ständig um, sieht fast provokant zu. Die Frau ist fix und fertig, blickt hilfesuchend umher, ohne wirklich zu sehen. Dreht sich im Kreis, verliert den Halt, stolpert zum Haltegriff.

Und da, da ist sie. Eine junge Frau Anfang 20, wahrscheinlich eine Studentin, verabschiedet sich gerade von ihrer Freundin und sieht und registriert das Leiden der betrunkenen Frau. Sie sagt: „Komm her, ganz ruhig.“ Und nimmt sie in den Arm. Einfach so. Ich kann es in dem Augenblick nicht fassen, wie richtig diese Geste ist. Sofort hört die Frau auf zu weinen, sinkt richtig ein in den Armen. Diese Umarmung ist genau das, was sie jetzt gebraucht hat. Die Studentin streichelt ihren Arm, ihren Rücken, redet ihr beruhigend zu. Ich sitze wie gelähmt auf meinem Platz, kann kaum glauben, was da gerade passiert. Ich bin zutiefst beeindruckt von ihrer Geste und von ihrem Mut. Es stört sie nicht, dass die Frau betrunken ist, dass sie dreckige und nicht passende Klamotten trägt. Sie ist einfach für sie da.

Ein junggebliebener Rocker steht neben den beiden, schaut verächtlich umher und murmelt einem Mann neben sich zu: „Die ist so dicht wie zehn Russen.“ Er sieht sich fast schon Beifall heischend um, doch ich kann ihm nicht in die Augen sehen. Eine solche Diskriminierung macht mich wütend. Doch die junge Frau reagiert ganz gelassen und sagt gekonnt: „Ist doch jetzt egal.“ Sie hält die Frau weiterhin in den Armen und sagt ihr, sie könne mit ihr gehen, sie müsse in eine ähnliche Richtung. Der Zug hält, ich steige aus. Atme aus.

Der unscheinbare Mann und die charismatische junge Frau, das sind für mich die Helden des Tages. Sie waren mutig, haben Stärke gezeigt und Zivilcourage bewiesen. Und das ohne irgendeine Gegenleistung. Sie haben das nicht für sich und ihren Ruf getan, sondern für die Frau. Ich möchte mich bei den beiden bedanken, doch habe den richtigen Moment verpasst. Jetzt sitze ich im Zug nach Hause und schreibe diesen Text aus purer Dankbarkeit. Ich will ihnen sagen, dass ihre Taten gesehen und wertgeschätzt wurden. Sie haben geholfen, als ich den Mut dazu nicht fand.

Doch ich habe den Mut, diese Worte zu schreiben, auf dass sie gelesen und vielleicht zu Herzen genommen werden.

Jeder hilft, so viel er kann.

Johanna Bernklau