Geimpft, genesen, genervt.


von Anabel Kobylinski

Harte Zeiten. Zwar nicht für alle gleich hart, aber irgendwie bleibt niemand unberührt von alledem, das uns gerade das Leben schwer macht: Krisen, Klimawandel, Querdenker, dazu die Corona-Pandemie und dann gäbe es noch Jens Spahn. Dem kann man zurzeit viel vorwerfen. Übertriebene Selbstkritik gehört eher nicht dazu. Wenn wir uns in Zeiten der Pandemie auf eines verlassen können, dann darauf, dass die Aussagen unseres noch Gesundheitsministers meist nur eine recht kurze Halbwertszeit haben. In fast schon verblüffender Regelmäßigkeit werden Ankündigungen zu Wechselunterricht gemacht und wieder relativiert oder gar zurückgenommen. Natürlich nur, falls sie von jemand anderem zerpflückt worden waren. Die Situation kennen wir alle noch aus unserer Grundschulzeit: Schnell noch morgens im vollgestopften Schulbus die Hausaufgaben vom besten Freund abschreiben, damit später bei der Hausaufgabenkontrolle wenigstens irgendwas im Heft steht. So ähnlich scheint das Vorgehen Spahns: leicht chaotisch, viel zu spät und wenig durchdacht.

Beispiel mobile Luftfilter: 20 Schüler und Schülerinnen in einem Raum. Rund ein Viertel davon ist seit mindestens zwei Monaten ständig krank. Geht auch nicht mehr weg. Corona kann es nicht sein. Die Fenster sind ja offen. Im Herbst 2020 wurden schon einmal Forderungen nach Luftfiltern laut, besonders, als die Temperaturen fielen und sich das Stoßlüften als wenig praktikabel erwies. Nach langem Hin und Her dann endlich die Frohe Botschaft: Der wichtigste Minister der Corona-Pandemie kündigt eine Förderung der Beschaffung mit rund 200 Millionen Euro an. Mehrere Schulen sehen allein schon wegen des bürokratischen Aufwandes von einer Beschaffung ab, zudem muss man sich ohnehin auf monatelange Warte- und Bestellfristen einstellen. Viel Plan, wenig Ahnung von der Umsetzung. Weder bei Jens Spahn noch auf kommunaler Ebene. Während einige Schulen jetzt rund ein Jahr später schon recht gut aufgestellt sind, sieht das an anderen bayerischen Schulen ganz anders aus. Wie? Keine Ahnung, das hat die Bundesregierung leider noch nicht gezählt.

Weitere Lösungsansätze gibt es nicht. Wechsel- oder Online-Unterricht sollen nicht mehr sein, zu viele Kinder haben unter dem Homeschooling gelitten. Jetzt sind wir alle zurück in der Schule: Maskenpflicht, Abstandsregeln und regelmäßige Corona-Tests sollen Abhilfe verschaffen. Ganz unter dem Motto „toi, toi, toi“. Von einer Aufholung von Defiziten kann, besonders bei den Kleinen, nicht gesprochen werden. Kapazitätsengpässe gibt es an zwei Stellen: bei Schülern und Lehrern. Während Lehrkräfte morgens fleißig Schnelltests ausgeben, stellt sich so langsam bei den Schülern vorwiegend eines ein: Missmut. Keiner hat mehr Lust auf acht Stunden Maskenpflicht und eine anschließende Heimfahrt im überfüllten Schulbus. Das neue Schuljahr startet, wie das alte endete: Mit Maßnahmen, die niemandem ausreichen. Neu ist ein milliardenschweres Programm der Bundesregierung für Aufholförderung. Wer soll die Nachhilfe geben? Und bei wem soll angefangen werden? Guter Ansatz, bitte ausführlicher. Das Projekt trägt den Titel „Aufholen nach Corona“. Darin enthalten: finanzielle Förderung von Nachhilfeunterricht und Freizeitangeboten sowie ein zusätzlicher Bonus von 100 Euro für jedes Kind aus einer sozial schwachen Familie. Insgesamt will der Bund zwei Milliarden Euro investieren. Zum Vergleich: Das Rettungspaket für die Lufthansa liegt bei rund neun Milliarden Euro.

Junge Menschen sind diejenigen, die durch die Corona-Pandemie am härtesten getroffen wurden. Teams statt Schullandheim, Zoom statt Wandertag. Das sind die Menschen, die in den prägendsten Phasen ihres Lebens Chaos statt Stabilität erleben mussten. Man kann es ihnen nicht verübeln, dass sie jetzt genau eines wollen: Die verlorene Zeit nachholen. Und jetzt kommt 2G. Schnelltests seien bestechlich, Antikörper nicht. Natürlich sorgt 2G dafür, dass weniger (schwer) erkranken und die Inzidenzen sinken. Wo wir wieder bei der Frage nach Freiheit und Gerechtigkeit sind: Was ist mit denen, die sich nicht impfen lassen können oder wollen? Tja. Wer kein Abi hat, darf nicht studieren, wer keinen Führerschein hat, darf nicht Auto fahren. Unsere Gesellschaft kennt zahlreiche Beschränkungen, die mal mehr und mal weniger gerecht sind, aber oft einfach nur Ordnung ins Chaos bringen möchten. Und Chaos kennen die Schulen seit 18 Monaten reichlich. Statt jung und frei sind junge Menschen nun vor allem eins: politische Versuchskaninchen.

Deutschland fährt auf Sicht gegen eine Wand. Im Bundesgesundheitsministerium wartet Jens Spahn auf seine Ablösung. Der Mann, der nicht vor allzu langer Zeit noch seine Chancen auf eine Kanzlerkandidatur sondierte, tritt nun das Rennen um den Chefposten seiner Partei gar nicht erst an. Die Politik betrachtet die Corona-Pandemie wie eine Hausaufgabe. Wenn wir Schüler und Schülerinnen fehlerhafte Aufgaben abgeben, bekommen wir die Möglichkeit, sie auszubessern. Diese Chance gibt es in der Pandemie nicht. Corona-Tote lassen sich nicht korrigieren.

Quellen:
https://www.tagesschau.de/kommentar/testzentren-betrug-kommentar-101.html  
https://hamburg.mitvergnuegen.com/2021/geimpft-genesen-getestet-genervt-2g-regel/  
https://www.bmbf.de/bmbf/shareddocs/kurzmeldungen/de/kinder-und-jugendliche-nach-der-corona-pandemie-staerken.html